Eine von Hermann Hesse angeleitete Verständigung mit Missionaren

Das Geburtsland und die Last des Erbes

Hesse (Erzähler): Meine Damen und Herren, Missionare. Mein Name ist Hermann Hesse. Viele von Ihnen kennen meinen Großvater, Hermann Gundert, einen großen Missionar in Indien, und meine Eltern, Johannes und Marie, die ihr Leben dem pietistischen Glauben widmeten. Ich wurde hier in Calw, im Schwarzwald, in diese Welt der tiefsten Überzeugung hineingeboren. Doch das Erbe war schwer. Es war die Last des Dogmas, die mir die Luft zum Atmen nahm.


Die Wahrheit, die uns geschenkt wird

Hesse: Die Mission ist überzeugt: Sie besitzt die Wahrheit und muss diese den „Unwissenden“ bringen. Man predigt das Wort, in dem Wissen, dass es rettet. Aber was, wenn die Wahrheit nicht etwas ist, das man besitzt oder verschenkt, sondern etwas, das man finden muss? Meine eigene Lebenskrise führte mich fort von diesen geschenkten Wahrheiten.

Die Reise nach Siddhartha

Hesse: Nach Jahren der inneren Zerrissenheit, der Depressionen und der Psychoanalyse, schrieb ich „Siddhartha“. Es ist kein Buch über Indien, es ist mein Bekenntnisbuch. Es ist der Versuch meiner Selbstheilung. Ich musste literarisch verarbeiten, was ich als junger Mann nicht akzeptieren konnte: dass der Weg zu Gott, zur Weisheit oder zur Erleuchtung ein einsamer Pfad ist.

Die erste Erkenntnis: Weisheit ist nicht lehrbar

Hesse: Das ist die zentrale Botschaft, die ich Ihnen Missionaren ans Herz legen möchte. Mein Siddhartha begegnet dem Buddha, dem erleuchtetsten aller Lehrer. Doch was tut er? Er verlässt ihn. Siddhartha (Textzitat): „Die Lehre des Erleuchteten ist herrlich; aber sie kann Wissen vermitteln, nicht Weisheit.“

Der Unterschied zwischen Wissen und Weisheit

Hesse: Was bedeutet das? Wissen kann man in Schulen, in Kirchen, durch Dogmen weitergeben. Man lernt die Gebote, die Geschichten, die Regeln. Weisheit aber – das tiefe Verstehen des Lebens – erwächst nur aus eigenem Erleben. Man muss die Fehler selbst begehen, die Freude selbst empfinden, um wirklich weise zu werden.

Der Kontrapunkt zur Mission

Hesse: Hier liegt der Kern meiner Kritik an der dogmatischen Mission: Sie vertraut auf Worte und Predigten. Sie will die Wahrheit in die Köpfe pflanzen. Ich aber ließ meinen Protagonisten sagen: „Ich misstraue Worten.“ Worte sind Formen, sie sind starr. Das Leben und die Wahrheit sind fließend.

Hört auf die innere Stimme

Hesse: Ich möchte jeden Menschen – ob in Indien oder im Schwarzwald – ermutigen: Folgt keinen Gurus, keinen Führern, keiner Lehre blind. Eure tiefste Wahrheit liegt in euch. Ihr müsst lernen, auf eure „innere Stimme“ zu hören. Das ist der Weg des modernen Individualisten. Es ist eine Religion ohne Kirche.

Die Krise der Gegensätze

Hesse: Mein Leben war oft ein Kampf zwischen extremen Gegensätzen. Ich sah, wie viele Christen den Körper, die Welt und die Triebe als etwas Böses und zu Überwindendes ansahen (Asketentum). Andere stürzten sich nur in den Genuss (Hedonismus). Keiner von beiden fand Frieden.

Die Synthese von Geist und Sinnlichkeit

Hesse: Ein Mensch wird nur ganz, wenn er diese Gegensätze vereint. Das nannte C. G. Jung – dessen Schüler mich behandelte – die Individuation. Man muss durch die Weltlichkeit, durch die „Sünde“, um sie wirklich zu verstehen und zu überwinden.

Die Welt annehmen, nicht wegbeten

Hesse: (Im Gespräch mit Missionarinnen): Sie glauben, das Weltliche oder „Böse“ könne man einfach wegbeten oder verleugnen. Ich sage: Nein. Es ist Teil des Reifeprozesses. Siddhartha musste erst als reicher, süchtiger Mensch in der Welt der Gier versinken, um die Gier zu kennen. Erst das tiefe Begreifen erlaubt die wahre Loslösung.

Eine Brücke zwischen Ost und West

Hesse: Mein Buch spielt in Indien und nutzt Begriffe wie Om und Samsara. Dennoch ist seine tiefste Botschaft sehr europäisch, sogar protestantisch geprägt – aber in einer von mir reformierten Form. Ich suchte nach einer Spiritualität, die für den westlichen, denkenden Menschen tauglich ist.

Liebe zur Welt statt Weltflucht

Hesse: Der historische Buddha lehrt das Loslassen und die Überwindung der Welt, um das Leiden zu beenden. Mein Siddhartha kommt am Ende zu einer anderen, für mich zentralen, Erkenntnis: Die Liebe zur Welt und zu den Dingen, so wie sie sind, ist wichtiger als die Suche nach dem Jenseits.

Die Gültigkeit der Nächstenliebe

Hesse: Ich wollte das christliche Ideal der Nächstenliebe bewahren. Es ist ein unersetzliches Gut! Aber ich musste es von den starren Institutionen der Kirche trennen. Ich verband es mit der östlichen Meditationstechnik, die das Loslassen von Formen und Dogmen lehrt, um das Wesentliche zu sehen.

Die Vollkommenheit des Augenblicks (Om)

Hesse: Die Erleuchtung ist nicht das Ankommen in einem Jenseits. Es ist die Erkenntnis der Gleichzeitigkeit aller Dinge. In einem einzigen Moment (im Klang des Om) hört Siddhartha die Stimmen aller Lebewesen, die Freude, den Schmerz, das Gute und das Böse. Alles ist Teil des ewigen Flusses.

Der Fluss als Lehrmeister

Hesse: Der Fluss ist mein wichtigster Lehrer in diesem Buch. Er fließt ständig, ist immer in Bewegung, aber er ist immer derselbe Fluss. Er lehrt uns, dass Zeit eine Illusion ist und dass wir nicht gegen das Leben kämpfen dürfen.

Annehmen, was ist

Hesse: Frieden finden wir nicht, indem wir kämpfen oder fliehen, sondern indem wir die Welt annehmen, wie sie ist. Selbst der Schmerz ist notwendig. Wenn Sie diese Haltung nach außen tragen, anstatt Dogmen zu predigen, dann erst sprechen Sie die Sprache des Lebens.

Was der Missionar wirklich bringen sollte

Hesse: Anstatt fremde Völker mit fertigen Antworten zu überhäufen, sollten Sie ihnen helfen, ihre eigene innere Pflanze zu finden. Geben Sie ihnen Werkzeuge der Selbstbesinnung, nicht fertige Dogmen.

Das Ideal der Ganzheit

Hesse: Ich suchte die Ganzheit. Und Ganzheit ist immer die Integration der Schattenseiten, nicht deren Verdrängung. Wenn die Kirche das Böse oder Weltliche verteufelt, schwächt sie den Menschen, anstatt ihn zu stärken.

Der einsame Weg

Hesse: Ich musste diesen Weg des Individualismus gehen. Meine Eltern und Großeltern konnten mich nicht im dogmatischen Glauben halten. Sie predigten die Lehre, aber ich suchte das Erlebnis. Die Erleuchtung ist ein einsamer Pfad.

Die wahre Liebe (Agapé)

Hesse: Wenn Sie predigen wollen, predigen Sie die reine, bedingungslose Liebe (Agapé). Aber trennen Sie diese Liebe von den Anforderungen des Kirchenapparats. Die Liebe ist das Licht des Flusses, das alle Dinge verbindet.

Die Weisheit des Scheiterns

Hesse: Scheitern und Fehler sind keine Sünden, die bestraft werden müssen. Sie sind notwendige Stationen auf dem Weg zur Weisheit. Das ist eine Lektion, die ich aus der strengen Pietistenwelt mitnehmen musste: Verurteilt nicht das Scheitern, lernt daraus.

Das Ende der Suche

Hesse: Mein Buch endet nicht mit einem Eintritt in ein Paradies. Es endet mit Frieden. Frieden mit sich selbst und Frieden mit dem unaufhaltsamen Fluss des Lebens. Das ist die höchste Form der Spiritualität.

Was bleibt für Sie?

Hesse: Fragen Sie sich nicht, welche Lehre Sie lehren müssen, sondern welches Erleben Sie ermöglichen können. Helfen Sie den Menschen, ihre eigene innere Stimme zu hören, statt Ihnen Ihre Wahrheit zu geben.

Der Kreislauf (Samsara)

Hesse: Das Leben ist ein ewiger Kreislauf. Ob Sie ihn Samsara oder den Lauf der Schöpfung nennen: Die Aufgabe ist, in diesem Kreislauf das Unvergängliche, das Om, zu erkennen.

Am Ende

Hesse: Ich habe versucht, eine Spiritualität für den modernen Individualisten zu schaffen. Eine, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt, nicht die Institution. Mögen Sie Ihren eigenen, wahren Pfad finden.

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