Während einer Reise durch Indien vor einigen Jahren las ich in der Tageszeitung einen Artikel, in dem berichtet wurde, dass Dr. Jacob, ein Neurochirurg, angeblich den Sitz der Spiritualität im Gehirn lokalisiert habe. Zwei Tage später hatte ich die Gelegenheit, ihn in seinem Haus zu besuchen.
Dr. Jacob Abraham ist ein indischer Christ und kennt sich auch mit hinduistischer Philosophie aus. Ich bin Suresh und habe als Techniker und Consultant bei einigen IT-Firmen in Deutschland gearbeitet. Seit ich Rentner bin, interessiere ich mich für interreligiöse Themen.
Im Folgenden berichte ich von meiner Begegnung und meinem Gespräch mit Dr. Jacob Abraham in Chennai.

Nach einer kurzen Begrüßung fragte er, ob ich Mediziner sei. Als ich erklärte, dass mich insbesondere die spirituelle Seite seines Buches „Das spirituelle Neuron“ interessiert, reagierte er zunächst zurückhaltend. Offenbar hatte er sich auf ein Fachgespräch unter Kollegen gefreut.

Er ließ sich in einen weich gepolsterten Bambussessel nieder. Ich fragte ihn direkt: „Haben Sie den Sitz der Spiritualität im Gehirn entdeckt?“ Dr. Jacob schüttelte ruhig den Kopf und begann, seine Theorie zu erläutern.
„Vierzig Jahre lang habe ich als Gehirnchirurg gearbeitet und geforscht. Viele meiner Patienten befanden sich am Ende ihrer Erkrankung – oft handelte es sich um fortgeschrittenen Krebs oder andere unheilbare Leiden. Die meisten wollten nur schmerzfrei sterben.

Wir führten Lobotomie durch, bei denen wir die Verbindung zum präfrontalen Kortex trennten. Einige Patienten verloren das Schmerzempfinden oder konnten ihre Schmerzen besser aushalten.
Dabei zeigte sich, dass diese Eingriffe die religiösen Gefühle und die Spiritualität beeinflussten. So verhielt sich ein bislang tiefgläubiger Patient nach der Operation auffallend gleichgültig und respektlos gegenüber religiösen Praktiken – er schien ein anderer Mensch zu sein.
Wenn Dr. Jacob über Spiritualität spricht, wandern seine Blicke oft zum Himmel. Seine Ausführungen sind zügig und präzise, größtenteils auf ein medizinisch versiertes Publikum zugeschnitten; dennoch mache ich mir Notizen zu allem, was ich verstehe.

Das spirituelle Neuron
Der Professor gerät ins Schwärmen, als er von jenem „spirituellen Neuron“ erzählt, das er im vorderen Cortex vermutet: „Gesundheit bedeutet das Zusammenspiel von physischem, mentalem, sozialem und spirituellem Wohlbefinden.“ Als jahrelanger Präsident der neurologischen Gesellschaft Indiens zweifle ich nicht an seiner wissenschaftlichen Kompetenz. „Auch die WHO betrachtet Gesundheit ganzheitlich“, ergänzt er.
Bis zu diesem Punkt fiel mir das Zuhören leicht. In seinem Buch „Spiritual Neuron“ stellt er die Frage, ob seine These zum Sitz der Spiritualität auch von anderen Experten geteilt wird.

Ich fordere ihn erneut auf, seine Theorie in einfachen Worten zu erläutern. Dr. Jacob blickt mich an, nimmt einen Schluck Chai und erklärt: „Wir verstehen physische und mentale Gesundheit recht gut, aber die sozialen und spirituellen Aspekte bleiben noch immer rätselhaft.“
Nach der Operation erschien vielen Patienten ihr Schmerz weniger quälend. Gleichzeitig stellten wir eine Verarmung von Emotionalität und Lebensfreude fest. Die Durchtrennung zentraler emotionaler und spiritueller Funktionen im Frontalhirn ließ uns vermuten, dass ein Verlust von Spiritualität und Religiosität möglich ist. Lobotomie wurde daher nur auf ausdrücklichen Wunsch durchgeführt.
Dieser Gedanke ist mir völlig neu, und so höre ich fasziniert zu.

Dr. Jacob fährt fort: Im Grunde wird menschliches Verhalten von primitiven Instinkten wie Hunger, Angst, Schlaf, Lust, Wut, Gier und Neid geprägt, aber auch von humanen und spirituellen Eigenschaften wie Liebe, Mitgefühl, Vergebung, Selbstlosigkeit, Großzügigkeit und Barmherzigkeit. Tierische und egoistische Antriebe entstehen durch das Ich, während spirituelle Qualitäten Bewusstsein und Selbstfindung voraussetzen. Ich glaube, dass das vordere Hirnlappen mit seinem „spirituellen Neuron“ für diese höheren Verhaltensweisen verantwortlich ist.
Im Gespräch mit einem Yogi, einem hinduistischen Meister, erklärte dieser, das spirituelle Zentrum entspreche dem „dritten Auge“ im Stirnbereich. Intensive Yoga-Übungen könnten helfen, diese Region zu spüren und Visionen zu erleben.

Vor Jahrzehnten sah man bei extremen psychiatrischen Störungen und schwersten Schmerzen die chirurgische Trennung der präfrontalen Hirnregionen als letzten Ausweg. So konnte eine Lobotomie selbst aggressivste Patienten besänftigen. Manche empfanden nach der Operation weiterhin Schmerzen, aber sie wurden als erträglich erlebt. Zuvor beteten viele Patienten und flehten Gott um Erlösung an; danach verhielten sie sich gewöhnlich und Religion spielte kaum noch eine Rolle.
Das geistige Wachstum hängt von Einstellung und Verhalten ab. Der präfrontale Kortex steuert die Transformation von Gut und Böse. Die Natur hat uns dieses Gehirn evolutionsbiologisch gegeben, damit wir unsere Rolle im Universum verstehen. Die Schaltkreise im Frontallappen versetzen uns in die Lage, Schöpfung und Schöpfer bewusst zu begreifen.
Laut Professor Jacob sind Wahrnehmung, Analyse, Verständnis und Reaktion Ausdruck des eigenen Bewusstseins. Für ihn ist das, was gemeinhin als Gott bezeichnet wird, das absolute Bewusstsein, die Wahrheit oder das Eine. Er nennt es „extra-dimensionale Energie“.
Der Professor pausiert nachdenklich, um seine Thesen weiter zu festigen.
Der Sitz der Kräfte
Wenn ich alles richtig verstanden habe, ist der präfrontale Kortex die Verbindung zwischen dieser „extra-dimensionalen Energie“ und dem Nervensystem. Im Frontallappen sitzen die Kräfte, gesteuert vom Bewusstsein. Jacob verweist darauf, dass die Vedanta-Philosophie Ähnliches lehrt: Die spezielle Energie beeinflusst über den Stirnbereich unser Bewusstsein, Verhalten und persönliche Haltung.
Als er seine Ausführungen mit der Quantentheorie verknüpft und die instabilen Grenzen des Universums anspricht, komme ich ins Grübeln. Dennoch behauptet er, dass diese Prozesse tiefe Veränderungen des Menschen bewirken können – wie beim Apostel Thomas oder bei Saul, der zu Paulus wurde.
Die göttliche Gestalt
Schließlich wechselt Jacob von der Medizin zur Philosophie. Obwohl er Christ und Wissenschaftler ist, vertraut er wenig auf institutionelle Religion. Ich frage, wie er Religion sieht. Nach kurzer Pause meint er: „Der Mensch braucht Rituale und menschenähnliche Gestalten wie Krishna oder Jesus, um die formlos ‚extra-dimensionale Energie‘ zu erfassen.“
Ob solche Operationen heute noch üblich sind, will ich wissen. Er verneint und erklärt, dass solche Eingriffe nur in extremen Fällen durchgeführt werden, da sie oft nicht den gewünschten Erfolg bringen.
Ein Telefonanruf beendet unser Gespräch. Ich verabschiede mich herzlich.




- https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/glaube-und-gehirn-spiritualitaet-ist-tief-in-unserem-nervensystem-verankert
- https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/neue-studie-gibt-es-einen-schaltkreis-fuer-religion-und-spiritualitaet-im-gehirn/
- https://cordis.europa.eu/article/id/31754-study-uncovers-links-between-brain-regions-and-spirituality/de
- https://www.deutschlandfunk.de/religion-und-hirnforschung-spiritualitaet-ist-tief-in-der-100.html
- https://www.deutschlandfunk.de/religiositaet-hirnforscher-und-theologen-auf-der-suche-nach-100.html
- https://www.kath.ch/newsd/us-wissenschaftler-finden-hirnregion-fuer-spiritualitaet/
- https://de.wikipedia.org/wiki/Außerkörperliche_Erfahrung
- https://nachrichten.idw-online.de/2012/11/14/religion-im-gehirn-neuronale-grundlagen-religioeser-erfahrung