Niemand ist eine Insel

Lisa ist 14 Jahre alt und ein Scheidungskind. Sie darf jeden Monat zu ihrem Vater. Auch die Ferien darf sie bei ihm verbringen. Lisa möchte unbedingt einmal Ferien am Meer, am liebsten auf einer Insel machen.

Günther, ihr Vater, ist zunächst nicht begeistert, aber Lisa weiß, wie sie ihren Vater um den Finger wickeln kann. Und tatsächlich sagt ihr Vater zu ihr: „Eine gute Bekannte wird uns demnächst die Ferien auf einer Nordseeinsel organisieren.“

Irgendwann einmal ist es soweit und sie fahren dorthin.

Während der Fahrt erzählt er von der guten Freundin. Anita wird ihnen in vielen Dingen helfen. Lisa, die zwei und zwei zusammenzählen kann, grinst und fragt ihren Vater: „Die Anita ist doch Deine Freundin, gell?“ Als Günther keine Antwort gibt meint Lisa lachend: „Papa, das ist doch kein Problem, wenn Du eine Freundin hast, ich habe nichts dagegen.“ Günther ist erleichtert und lächelt.

Als sie mit der Fähre auf der Insel ankommen, zeigt Günther auf eine Frau, die am Kai steht und sagt: „Schau, die Dame dort mit der pinkfarbenen Hose, das ist Anita.“ Lisa denkt für sich, aha, das wird also ein Urlaub zu dritt. Sie findet Anita, die einige Jahre jünger ist als ihre Mutter, nett und witzig.

Die Unterkunft ist ein kleines freistehendes Häuschen mit einem riesengroßen Garten. Lisa freut sich, sie bekommt ihr eigenes Zimmer. Von dort aus kann sie das Meer sehen und das Rauschen der Wellen hören.

Anita und Lisa bereiten das Abendbrot vor. Lisa erzählt Anita lachend, dass ihr Papa auf der Fähre seekrank und ihm schlecht geworden sei. Daraufhin fragt Anita: „Könnte es sein, dass er einfach Angst vor der großen Weite des Meeres hat?“ Lisa staunt über diese Antwort und sagt leise: „Ach, vielleicht sind wir deshalb in den Ferien nie auf eine Insel gefahren.“

Nachdem sie gemeinsam das gute Abendessen genossen haben, betrachten sie besinnlich den schönen klaren Sternenhimmel.

Irgendwann fragt Lisa: „Warum müssen die Erwachsenen sich eigentlich streiten und sich trennen?“ Günther sagt darauf nichts, sondern starrt nur ins Gras.

Anita räuspert sich und antwortet: Weißt Du, niemand ist eine Insel aber wir Menschen möchten  manchmal eine Insel sein. Wir sind verschieden wie Ebbe und Flut. Manchmal wollen wir gesellig, manchmal lieber alleine sein.

Allerdings gehören Ebbe und Flut untrennbar zusammen, was bei uns Menschen häufig nicht der Fall ist. Andererseits bricht bei einem heftigen Sturm oft einmal etwas von einer Insel weg und ist für immer verloren. Genauso zerbrechen Dinge zwischen zwei Menschen im Sturm des Lebens. Dann wollen wir nicht einmal mehr miteinander reden, um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

Lisa und Günther sind ganz still geworden und denken darüber nach.

Dann sagt Günther plötzlich, als sei er aus einem tiefen Schlaf erwacht: „Lisa, morgen bei Ebbe, machen wir eine Wattwanderung.“

„Oh ja“, antwortet Lisa begeistert. „Weißt Du Papa, wir gehen am Strand entlang.

„Prima, meint Günther, da können wir bestimmt auch viele Muscheln sammeln“ und freut sich wie ein fröhlicher Junge.  

Anita und Lisa schauen sich beide an und lächeln.

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