Flüchtlingskrise, innerdeutsche Spaltung oder Klimawandel: Die Liste kontroverser Themen ist lang – doch oft fehlt es an echtem Austausch. Mit der Aktion „Deutschland spricht“ bringt die F.A.Z. unterschiedlichste Ansichten an einen Tisch. Nun berichten wir über die Gespräche, die zwischen Lüneburg und Darmstadt, Halle und Heidelberg stattgefunden haben.
Refugee crisis, inner-German division or climate change: the list of controversial topics is long – but often there is no real exchange. The F.A.Z.’s “Germany speaks” campaign brings a wide variety of views to one table. Now we report on the talks that took place between Lüneburg and Darmstadt, Halle and Heidelberg.
“Jeder hätte in den Westen gehen und sein Glück versuchen können“
VON INA LOCKHART, LUDWIGSBURG
“Anyone could have gone to the West and tried their luck.”
Ein „Gesamtdeutscher“ und ein „vollintegrierter Inder“ treffen sich in Ludwigsburg zum Meinungsaustausch. Besonders kontrovers diskutieren Sie das Thema bezahlbarer Wohnraum.
An “all-German” and a “fully integrated Indian” meet in Ludwigsburg to exchange views. They discuss the topic of affordable living space in a particularly controversial way.
Eigentlich hat Steffen Köhler Subramaniya Suresh nicht erst am 30. Oktober 2019 kennengelernt, als sich die beiden das erste Mal in ihrem Leben persönlich begegnen. In Sureshs Lieblingsrestaurant im Zentrum von Ludwigsburg. Zusammengebracht durch die Aktion „Deutschland spricht“, bei der sich fremde Menschen mit kontroversen Ansichten zu einem persönlichen Schlagabtausch treffen. Als Köhler den ersten Mailkontakt mit Suresh aufnehmen will, ist er unsicher bei der richtigen Anrede. Was ist Vorname, was Nachname? Google soll helfen, führt ihn aber bei der Suche unter „Subramaniya“ auf eine Seite über Ayurveda.
Steffen Köhler did not actually meet Subramaniya Suresh until October 30, 2019, when they first met in person at Suresh’s favourite restaurant in the centre of Ludwigsburg. Bringing them together through the “Germany Talks” campaign, in which strangers with controversial views meet for a personal exchange of blows. When Köhler wants to make his first email contact with Suresh, he is unsure of the right addressing. What is first name, last name? Google is supposed to help, but leads him in the search under “Subramaniya” to a page about Ayurveda.
Mit dem Suchwort „Suresh“ hat der 49-Jährige Erfolg. Jetzt weiß er nicht nur, dass es der Nachname ist, sondern liest auch gleich die Lebensgeschichte seines künftigen Diskussionspartners, der aus Südindien stammt und Informatik in Bangalore studiert hat. In dem Buch „Pendelndes Leben zwischen Morgen- und Abendland“ hat Suresh sie erzählt.
The 49-year-old is successful with the search term “Suresh”. Now he not only knows that it is his last name, but also reads the life story of his future discussion partner, who comes from southern India and studied computer science in Bangalore.
Shuttle life between the Orient and the Occident – Author Suresh
Mit der Anekdote rückt Köhler aber erst am Ende des Treffens heraus, nachdem er warm geworden ist. Am Anfang bricht Suresh, den ein Praktikum 1973 nach Deutschland geführt hat, das Eis. Er bestellt eine Runde Vorspeisen aus seiner alten Heimat und erklärt wortreich, was Chai Masala, Pakora und Papadams sind. Köhler, der in der Lutherstadt Eisleben im Harz in Sachsen-Anhalt geboren ist, lässt sich darauf ein und kommentiert die Vielzahl an Dips und Soßen mit dem Satz: „Sie machen es einfach mal vor.“
But Köhler only comes out with the anecdote at the end of the meeting, after it has become warm. In the beginning, Suresh, who had been sent to Germany for an internship in 1973, breaks the ice. He orders a round of appetizers from his old homeland and explains in a rich and wordy way what Chai Masala, Pakora and Papadams are. Köhler, who was born in the Luther town of Eisleben in the Harz Mountains in Saxony-Anhalt, is prepared to take on this challenge and comments on the multitude of dips and sauces with the sentence: “You just show them how.
Die Frage, ob sich Deutschland zu wenig um die Ostdeutschen kümmert, haben beide kontrovers beantwortet. Suresh mit nein, Köhler mit ja. „Ich bin seit 28 Jahren hier im Wilden Westen“, sagt der Betriebsleiter einer Großküche. „Ich habe komplett bei null angefangen, eine Stelle gesucht und mich hochgearbeitet.“ Damals war er 20 Jahre alt. Seine Eltern erst um die 40. Jung genug, um ohne die Hilfe ihres Sohnes zurechtzukommen. „Diese Chancen hatten meine Eltern aber nicht“, sagt der gelernte Koch, der später noch BWL studiert hat. „Meine Mutter, gelernte Schneiderin, hat partout keine Arbeit gefunden und hat sich dann selbständig gemacht. Die Preise – Lebenshaltung und Lohngefüge – klafften extrem auseinander.“ Köhler erinnert sich, wie seine Eltern durch einen kreditfinanzierten Hauskauf zeitweise in eine Notlage geraten, als sie arbeitslos werden.
The question of whether Germany cares too little about the East Germans was answered controversially by both of them. Suresh with no, Köhler with yes. “I’ve been here in the Wild West for 28 years,” says the operations manager of a canteen kitchen. “I started from scratch, looked for a job and worked my way up.” At that time he was 20 years old. His parents were only around the age of 40, young enough to get along without the help of their son. “But my parents didn’t have these chances,” says the trained cook, who later studied business administration. “My mother, a trained seamstress, couldn’t find a job at all and then went into business for herself. The prices – standard of living and wage structure – were extremely different”. Köhler remembers how his parents were in an emergency situation when they became unemployed as a result of buying a house financed by a loan.
Suresh erzählt, wie er nach der Wende zusammen mit seiner Familie in den Osten Deutschlands gereist ist. Der „alternde Inder mit Schnurrbart, aber ohne Turban“, wie er sich selbst beschreibt, schwärmt von den „fantastischen Straßen“ und von Glasfaserkabel, das damals im Osten schon verlegt wurde und das es im Westen teils erst seit 2019 gibt.
Suresh tells how he travelled to eastern Germany with his family after the fall of communism. The “ageing Indian with a moustache, but without a turban”, as he describes himself, raves about the “fantastic streets” and the fiber optic cable, which was already laid in the East at that time and which has partly only existed in the West since 2019.
Suresh: „Ich habe über den Solidaritätszuschlag viel Geld abgeben müssen für den Osten. Am Anfang gerne, aber irgendwann habe ich mich gefragt, warum denn eigentlich?“
Suresh: “I had to give a lot of money for the East through the solidarity surcharge. At the beginning I liked it, but at some point I asked myself why?
Köhler: „Von dem Solidaritätszuschlag haben die Leute nichts, die tagtäglich auf Arbeit gehen. Dass alle gleich sind, kann man nur über die Gehälter erreichen. Die Menschen im Osten müssen das gleiche verdienen wie die Menschen im Westen. Auch von den Autobahnen, die gebaut wurden, haben die Leute vor Ort nichts.“
Köhler: “People who go to work every day have nothing to gain from the solidarity surcharge. The fact that everyone is equal can only be achieved through salaries. People in the East have to earn the same as people in the West. Even from the motorways that were built, the local people have nothing.”
Suresh: „Das verstehe ich nicht. Eine gute Straßeninfrastruktur bringt doch nicht nur Waren, sondern auch Arbeitsplätze.“
Suresh: “I don’t understand. A good road infrastructure does not only bring goods, but also jobs.
Köhler: „Ja, an den Autobahnen entstehen schon hier und da neue Werke. Das sehe ich, wenn ich zu meinen Eltern in den Osten oder nach Berlin fahre. In den Hotspots wie Dresden gibt es Arbeit, aber nicht auf dem Land.“
Köhler: “Yes, new plants are already being built here and there along the motorways. I see that when I go to my parents in the East or to Berlin. In hotspots like Dresden there’s work, but not in the country.”
Suresh: „Könnte es sein, dass sich in den 40 Jahren DDR durch den Effekt einer geschlossenen Gesellschaft eine besondere Mentalität herausgebildet hat? Eine bestimme Erwartungshaltung, dass sie etwas bekommen. Hier im Westen ist es eher, dass man zuerst etwas leistet oder macht und dann etwas erwartet. Das ist mein Eindruck. Ich sage nicht, dass es so ist.“
Suresh: “Could it be that in the 40 years of the GDR a special mentality developed through the effect of a closed society? A certain expectation that they will just get something. Here in the West, it’s more likely that you first do something and then expect something. That’s my impression. I’m not saying it is.”
Köhler: „Das trifft nicht auf mich zu, weil ich weg bin in den Westen. Jeder in meinem Alter hätte das machen können. In den Westen gehen und sein Glück versuchen. Bei denen, die nicht weggehen konnten, weil sie ein Haus hatten oder sich um die Eltern kümmern mussten, liegt es nicht an der Mentalität. Es liegt eher daran, dass sie arbeitslos wurden. Meine Geburtsstadt, Eisleben, war eine Bergbauregion. Sie wurde 1991/92 komplett abgewickelt. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl versprach: ‚Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor.‘ Geliefert hat die Regierung aber nicht.“
Köhler: “That does not apply to me, because I am away to the West. Anyone my age could have done that. Go to the West and try your luck. For those who couldn’t leave because they had a house or had to take care of their parents, it’s not the mentality. It is more because they became unemployed. My hometown, Eisleben, was a mining region. It was completely liquidated in 1991/92. The then Federal Chancellor Helmut Kohl promised: ‘Nobody will be worse off than before’. But the government did not deliver”.
Suresh: „Es ist erschreckend, wie anders die Menschen denken und die AfD wählen.“
Suresh: “It’s frightening how different people think and vote for the AfD.”
Köhler: „Auf die Pegida-Demos gehen Menschen, die 60 oder 70 Jahre alt sind. Das ist genau die Generation, die damals ihren Job verloren hat.“
Köhler: “The Pegida demos are attended by people who are 60 or 70 years old. That’s exactly the generation that lost its job back then.”
Suresh: Ich habe eine persönliche Frage an Sie. Wie fühlen Sie sich? Wo ist ihre Heimat, im Westen oder im Osten?“
Suresh: I have a personal question for you. How do you feel? Where’s your home, west or east?”
Köhler: „Eigentlich geht es mir fast genauso wie Ihnen. Ich bin auch eingewandert und musste mich integrieren. Ich spreche allerdings immer noch meinen ostdeutschen Slang. Ich bin ein Gesamtdeutscher, falls es so etwas gibt. Oder ein „Wossi“, eine Kombination aus „Wessi“ und „Ossi“. Das sind keine Schimpfwörter für mich.
Köhler: “Actually, I feel almost exactly the same as you. I also immigrated and had to integrate myself. However, I still speak my East German slang. I am a total German, if there is such a thing. Or a “Wossi”, a combination of “Wessi” and “Ossi”. Those are no abusive words for me.
Richtig kontrovers wird es bei der Frage, ob der Staat stärker in den Immobilienmarkt eingreifen sollte, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Suresh ist dagegen, Köhler dafür.
The question of whether the state should intervene more strongly in the real estate market in order to create affordable living space is really controversial. Suresh is against it, Köhler in favour.
Köhler: „Hier muss der Staat vor allem Menschen mit wenig Einkommen helfen. Menschen, die nur den Mindestlohn verdienen, so wie meine Mitarbeiter in der Großküche. Für einen unserer Angestellten finden wir beispielsweise einfach keine Wohnung.“
Köhler: “Here the state must above all help people with low incomes. People, who only earn the minimum wage, like my employees in the canteen kitchen. For one of our employees, for example, we simply can’t find an apartment.”
Suresh: „Der Staat hat null Ahnung vom Immobilienmarkt. Die Privatwirtschaft sollte mehr Chancen bekommen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Beispielsweise könnte der Staat über Steuererleichterungen in das System eingreifen.“
Suresh: “The state has no idea of the real estate market. The private sector should have more opportunities to create affordable housing. For example, the state could intervene in the system through tax breaks.”
Köhler: „Das bringt den ärmeren Menschen doch auch nichts. Die Privatwirtschaft ist doch nur auf Profit aus. Der Staat hat jahrelang den sozialen Wohnungsbau vernachlässigt und Immobilien an die Privatwirtschaft verkauft.“
Köhler: “That doesn’t help the poorer people either. The private sector is only after profit. For years, the state has neglected social housing and sold real estate to the private sector.”
Suresh: „Nein, der Staat sollte nicht in den Markt
eingreifen.“
Suresh: “No, the state should not intervene in the market.”
Köhler: „Doch, er sollte sehr wohl eingreifen. Wenn Geringverdiener subventionierte Mietwohnungen bekämen, wären sie aus dem allgemeinen Mietmarkt raus und der Preisdruck würde etwas nachlassen. Maßnahmen wie die Mietpreisbremse sind doch nur löchrige Fliegenklatschen. Klar kann sozialer Wohnungsbau bedeuten, dass Menschen da wohnen, wo Normalverdiener nicht unbedingt wohnen wollen.“
Köhler: “Yes, he should intervene very well. If low-income earners were to receive subsidized rental apartments, they would be out of the general rental market and the pressure on prices would ease somewhat. Measures such as the rent brake are just a fly swatter. Of course, social housing can mean that people live where normal earners don’t necessarily want to live.”
Suresh: „Emotional gedacht gebe ich Ihnen da Recht. Doch aus wirtschaftlicher Sicht funktioniert das nicht. Nur, wo Aussicht auf Gewinn ist, wird es laufen. Der Staat kann das nicht.“
Suresh: “Emotionally thought, I agree with you. But from an economic point of view it doesn’t work. Only where there is a prospect of profit will it work. The state can’t do that.”
Köhler: „Der Staat kann für den sozialen Wohnungsbau Steuergelder nutzen. Und ein Ministerium dafür schaffen oder einen entsprechenden Lobbyverband.“
Köhler: “The state can use taxpayers’ money for social housing construction. And create a ministry for it or a corresponding lobby association.”
Suresh: „Straßen zu bauen, ja, das ist Aufgabe des Staates. Aber Wohnraum schaffen ist Aufgabe der Privatwirtschaft. Bei der Frage kommen wir, glaube ich, nicht zueinander.
Suresh: “Building roads, yes, that is the task of the state. But creating housing is the task of the private sector. I don’t think we can come together on this issue.
Über die Debattenfrage, ob Deutschland durch Einwanderung unsicher geworden ist, diskutieren die beiden „Eingewanderten“ sehr differenziert. Für beide ist das Thema von den Medien gemacht, die nur die negativen Seiten von Einwanderung und Ausländern herausstellten. Suresh dolmetscht regelmäßig für Polizei und Gerichte in den Sprachen Deutsch-Englisch-Tamil und erlebt Situationen, in denen Beamte bedroht werden. Gleichermaßen beobachtet er in seinem Alltag in Ludwigsburg viel Toleranz und Verständnis. Köhler erzählt von den 15 Nationen, die in seiner Großküchenmannschaft vertreten sind. „Ich sehe die Probleme, die Einwanderung mit sich bringen kann.“ Einem 20 Jahre alten Syrer musste er schließlich schweren Herzens kündigen. „Wir hatten keine Kraft mehr, wir konnten das nicht mehr leisten. Er hat bei uns seine Chance bekommen. Doch es ging nicht. Sein Verhalten war weit weg von unseren Regeln und Wertvorstellungen. Er war von acht Lebensjahren im Krieg geprägt. Als Kind und Jugendlicher hat er nichts anderes kennengelernt.“
The two “immigrants” discuss the question of whether Germany has become insecure as a result of immigration in a very differentiated way. For both, the topic is made by the media, which only highlighted the negative sides of immigration and foreigners. Suresh regularly interprets for police and courts in German-English-Tamil and experiences situations in which civil servants are threatened. At the same time he observes a lot of tolerance and understanding in his everyday life in Ludwigsburg. Köhler tells of the 15 nations represented in his canteen kitchen team. “I see the problems that immigration can bring with it. It was with a heavy heart that he finally had to resign from a 20-year-old Syrian. “We had no more strength; we could no longer afford it. He got his chance with us. But it didn’t work. His behavior was far away from our rules and values. He was influenced by eight years of life in the war. As a child and youth he got to know nothing else”.
Suresh beschreibt einen Bekannten in Deutschland, der sich heute für Menschen mit Integrationsproblemen engagiert. „Irgendwann hat er mir erzählt, dass er selbst mal gewalttätig war. Auch er kam aus einem Kriegsgebiet. War dadurch anders programmiert. Er hat eine gewisse Zeit zum Einleben gebraucht, bis er sich mit der Gesellschaft synchronisieren konnte.“
Suresh describes an acquaintance in Germany who today is committed to people with integration problems. “At some point he told me that he had been violent himself. He also came from a war zone. He was programmed differently. It took him some time to settle in until he could synchronize with society.”
Fast hätten Köhler und Suresh nicht zusammengefunden. Wäre die Teilnahmeanfrage für „Deutschland spricht“ gleich als erstes aufgepoppt, hätte Köhler das Fenster sofort weggeklickt. Seinem Interesse an Online-Meinungsabfragen ist es zu verdanken, dass der Gesamtdeutsche jetzt mit dem „vollintegrierten“ Inder an einem Tisch sitzt und debattiert. „Als nach der letzten Meinungsfrage das Fenster mit der Teilnahmeanfrage für die Aktion auftauchte, wollte ich erst nicht mitmachen. Aber dann habe ich mich doch darauf eingelassen.“
Köhler and Suresh almost didn’t get together. If the participation request for “Germany speaks” had been the first to pop up, Köhler would have clicked the window away immediately. It is thanks to his interest in online opinion polls that the all-German now sits at one table with the “fully integrated” Indian and debates. “When the window with the participation request for the action appeared after the last opinion question, I didn’t want to participate at first. But then I got involved.”